Japan und das Alphabet
Ein Bahnhofsschild in der Präfektur Aomori
Die Japaner haben es eigentlich nicht nötig, das lateinische Alphabet zu verwenden. Aber die westlichen Kulturen übten eine große Faszination auf sie aus und viele fanden die lateinischen Buchstaben ziemlich schick. Die Folgen hiervon sind im japanischen Alltag heutzutage unübersehbar, und sie sind nicht immer erfreulich.
Schon immer aufnahmefähig
Ursprünglich besaßen die Japaner keine eigenständige Schrift. Sie haben es den Chinesen zu verdanken, dass sie überhaupt mit dem Schreiben beginnen konnten. Vermutlich deshalb hatten Japaner auch später nie Hemmungen bei der Verwendung fremder Schriften in ihrer Schreibkultur, so dass das lateinische Alphabet bedenkenlos von ihnen integriert wurde*.
- Portugiesische Missionare kamen Ende des 16. Jahrhunderts nach Japan, um ihre Religion in Japan zu verbreiten. Mit ihnen kam das lateinische Alphabet. Aber das Christentum wurde recht bald von der Regierung verboten und Japan schottete sich für ca. 250 Jahre weitgehend von der Außenwelt ab, was auch für das Alphabet das vorläufige Ende bedeutete. Erst nach der Meiji-Restauration 1868 bekam das Alphabet starken Aufwind und begann die japanische Gesellschaft zu durchdringen.
Helvetica! Helvetica!
Wie gesagt brauchen die Japaner das Alphabet nicht, um ihre Sprache zu schreiben. Man könnte sagen, dass lateinische Buchstaben hauptsächlich fürs Schmücken verwendet werden und weniger dafür, dass jemand sie liest. Die simplen, rationalen Formen der Buchstaben sind es, was die Japaner so fasziniert. Klare, zeitlose und unpersönliche Schriftarten sind besonders bei Designern beliebt. Einmal dürfen Sie raten, welche Schriftart dort am meisten gefragt ist – richtig, die Helvetica.
Bahnhof JR Shinjuku
Wer Japan besucht und kein Japanisch versteht, sucht nach Informationen in lateinischen Buchstaben und findet sie auch überall. Auf den Bahnhofsschildern stehen die Namen des aktuellen Bahnhofs und der – soweit der Bahnhof keine Endstation ist – zwei angrenzenden Stationen meist auch in lateinischen Buchstaben.
Tōkyō Station. Das »ō« (o Makron) sieht man fast ausschließlich in Ortsbezeichnungen. Es zeigt an, dass der Vokal lang, wie Honig, ausgesprochen wird.
Shibuya Station der Tōkyū Tōyoko-Linie. In Japan ist nicht festgelegt, wo genau eigentlich ein Bindestrich gesetzt wird. Er ist genau genommen kein Bindestrich sondern er funktioniert wie ein Trennstrich, der für eine richtige Silbentrennung bei der Aussprache sorgt.
Frutiger in Shinjuku, 1988 ©GK Design Group
Frutiger im Aufwind
Die Schrift Frutiger wurde bereits im Jahre 1988 für das neue Orientierungssystem der JR-Linien im Bahnhof Shinjuku, einem der verkehrsstärksten Bahnhöfe der Welt, eingesetzt – allerdings nur ihre Ziffern für die Nummerierung der Bahnsteiggleise. Der Rest (das lateinische Alphabet) wurde in Helvetica gesetzt. Vielleicht waren den Japanern damals noch die Buchstaben der Frutiger zu fremd aber immerhin; man könnte das als der erste Emanzipationsversuch der japanischen Designer bezeichnen.
Noch eine Weile sollte jedoch die technische und kalte Helvetica in Japan DIE Schrift für lateinische Buchstaben bleiben. Aber die humanistische und warme Frutiger gewinnt zunehmend an Beliebtheit. Die alte Schweizer wird nach und nach durch die modernere Schweizer ersetzt, und das nicht nur bei der JR-Gruppe sondern auch bei anderen Bahngesellschaften, die bislang der Souveränität der Helvetica nie anzweifelten.
Der neue Look bei der Keikyu-Line, einer der zahlreichen japanischen Privatbahnlinien im Ballungsraum Tokio. Seit 2010 ersetzt das Unternehmen schrittweise die ausgediente Helvetica durch Frutiger.
Alt gegen Neu. Altes Handy gegen Smartphone, Helvetica gegen Frutiger ersetzt.
Nur Frauen einsteigen, bitte! Mittlerweile gibt es auch im Westen Japans neue Waggons für Frauen und eine neue Schrift für die Beschilderung. Aber der Setzer dieses Hinweisschildes läuft offensichtlich noch der Zeit hinterher, verwendet wohl unüberlegt »japanische« Satzzeichen für den englischen Satz und setzt natürlich kein Leerzeichen vor der öffnenden Klammer (da das japanische Äquivalent bereits einen Zwischenraum besitzt).
Am Bahnhof Okayama kann man sich noch nicht ganz von der alten Oma trennen und belässt die großen Gleisnummern in Helvetica, während das restliche Alphabet in Frutiger gesetzt ist. Auch diesem Setzer fehlen leider die Grundkenntnisse in Englisch, so dass das arme Komma ohne Leerzeichen danach steht.
Provinz in Japan
Selbst in der Stadt sind die meisten Japaner überhaupt nicht interessiert, was auf den Schildern in lateinischen Buchstaben steht, wie sie aussehen oder gesetzt sind. Denn sie schauen hauptsächlich nur auf die Schriftzeichen, die sie sofort lesen können, klar. Der Rest ist für Ausländer. In der japanischen Provinz sieht man aber sehr selten Ausländer, trotzdem ist alles bestens für sie vorbereitet – das seit Jahren und Jahrzehnten.
Gijukukōkōmae Station der Ōwani-Linie in der Präfektur Aomori. In der Provinz ist Typografie nach wie vor ein Fremdwort. Helvetica? Frutiger? Nie gehört! Hauptsache: Fremde besser informieren.
Aufmerksame Betrachter erkennen schnell an den unattraktiven Schriftarten und ungeschickten Satzarbeiten, wie unbedeutend das lateinische Alphabet für Japaner eigentlich ist. Aber ihnen ist auch klar, dass man den Japanern keine Vorwürfe machen kann. Es gehört nicht wirklich zu ihrer Kultur und man kann auch nicht erwarten, dass sie alles perfekt machen. Vielleicht wollten sie das Alphabet nur irgendwo anwenden, weil es weltgewandt, modern und schick wirkt. In gewisser Weise mag auch eine Art Höflichkeit der Grund sein, denn es ist ja nicht verkehrt, wenn man damit den Reisenden aus dem Ausland bei der Orientierung helfen kann.
Erzwungener Blocksatz
Bei dieser Gelegenheit und anhand des oben dargestellten Bahnhofsschildes möchte ich Ihnen noch kurz erzählen, dass Japanisch seltsamerweise aber häufig im sogenannten erzwungenen Blocksatz gesetzt wird. Und zwar in einer Art und Weise, die die europäischen Typografen auf die Palme bringen würde:
Die Schriftzüge sollen wie dargestellt aufs vorgegebene Layout (im grün gekennzeichneten Bereich) platziert werden. Die Schriftgröße ist für alle Schilder einheitlich festgelegt, und der zweizeilige Text wird jeweils zentriert.
Die Texte sind nimmer exakt lang wie die vorgegebenen Flächen.
Kein Problem. Alles, was nicht in den verfügbaren Platz passt, wird passend gemacht – mit Gewalt. Die verzerrten, verunstalteten Schriften sind dabei zweitrangig.
Fertig ist ein hemmungslos erzwungener Blocksatz.
Diese gegenüber den Schriftkünstlern respektlose Vorgehensweise gilt hierzulande als typografisches Tabu (s. unten), in Japan ist sie dagegen gang und gäbe. Auch mir fiel das nicht negativ auf, als ich noch in Japan lebte und die erkenntnisreiche Welt der europäischen Typografie nicht kennenlernte.
Nach dem Studium in Berlin war ich noch eine Zeit lang sehr traurig darüber, dass selbst japanische Grafikdesigner nicht in der Lage sind, lateinische Buchstaben richtig zu setzen. Aber jetzt, wo ich etwas älter geworden bin, finde ich es nicht mehr so schlimm, wie in Japan mit den lateinischen Buchstaben umgegangen wird. Merkwürdige Schriftarten und unbeholfene Satzarbeiten haben doch irgendwo auch ihren eigenen Charme. Eine perfekte Welt kann schon auch sehr langweilig sein.
Für diejenigen, die nicht verstehen, warum das ein Tabu sein soll, ersetze ich die Schriften durch die allseits bekannten Firmenlogos:
Problem erkannt? Ist das schön? Auch eine Schrift soll man immer so verwenden, wie es der Typedesigner vorbestimmt hat.