JIS X 4051 – Norm für den japanischen Werksatz
JIS X 4051 ist eine Norm des Japanischen Industriestandards (JIS) und definiert die Satzregeln für japanische Dokumente – und die hat es in sich.

Das Regelwerk
Ein umfassendes, aber weitaus unbekanntes Regelwerk
In dem ca. 150-seitigen Schriftstück haben die Experten versucht, den allgemeinen Umgang mit Schriftzeichen, Satzzeichen, Zeilen, Absätzen, Ruby-Annotationen (was ist das?), Tabellen, Grafiken usw. beim horizontalen und vertikalem Werksatz festzulegen. Anders als die deutsche Typografie-Fibel »Detailtypografie« ist dieses komplexe Dokument kein Buch zum Vergnügen, sondern ein trockenes Regelwerk für ein bestimmtes, sehr kleines Fachpublikum. Man muss sich entweder sehr stark für dessen Inhalt interessieren oder von Beruf wegen gezwungen sein, um das Ganze durchzulesen.
Es ist schon erstaunlich, dass so ein umfassendes Dokument über den Werksatz überhaupt zusammengestellt wurde, aber es hätte vielleicht ein größeres Publikum erreicht, wenn es auch vom Akzidenzsatz gehandelt hätte. Jedenfalls soll japanische Software von Adobe (wie Illustrator und InDesign) JIS X 4051 konform erstellt worden sein, wodurch die Umsetzung der japanischen Satzmethoden aus den Bleisatz- und Fotosatz-Zeitaltern heute noch in der digitalisierten Form möglich ist. Solche Standards sind für die Softwareentwickler sicherlich hilfreich aber für normale Grafiker wie mich nichts Neues.
Dann kam man irgendwann auf die Idee, diese Standards in ein W3C-Dokument zu übertragen.
Aufklärung für Nichtjapaner
Das World Wide Web Consortium (W3C) veröffentlicht ein auf dieser Norm basierendes englischsprachiges Dokument (W3C Note) »Requirements for Japanese Text Layout«, das die Anforderungen für den japanischen Werksatz detailliert beschreibt. Dabei geht es nicht darum, wie der japanische Text mit CSS zu formatieren ist, sondern das Dokument soll hauptsächlich dazu dienen, die Nichtjapaner über die Geheimnisse des japanischen Schriftsatzes aufzuklären.

©2012 W3C
Die Zielgruppe sind Nichtjapaner, die kein Japanisch können, und auch Laien auf diesem Gebiet sollen damit besser verstehen können, nach welchen Regeln und Prinzipien der japanische Werksatz durchgeführt wird. Deshalb enthält das Dokument viel mehr Abbildungen und Hintergrundinformationen als die japanischen Vorlagen. Und obwohl auch diese Veröffentlichung nicht das ganze Spektrum der japanischen Typografie umfasst, und trotz schlechter Web-Usability, scheint sie im Gegensatz zur JIS-Norm eine relativ große Beliebtheit im Ausland zu genießen.

©2012 W3C
Und interessanterweise hat die Arbeitsgruppe des W3C diese »Working Group Note« später ins Japanische übersetzt und veröffentlicht – für Japaner, ganz nett – und das hat es in sich.
Ein Relikt aus der Vergangenheit
Dem aufmerksamen Leser wird beim Stöbern in dem Dokument gleich auffallen, dass das Komma und der Punkt in den horizontal gesetzten japanischen Beispieltexten »europäisch« sind, es sind also die Satzzeichen, die Sie kennen. In der japanischen Fassung dieses Dokuments, das übrigens auch als gedrucktes Buch erhältlich ist, betrifft das sogar die gesamten Texte. Ist das üblich? – NEIN.

©2012 W3C
Meines Erachtens ist diese Praxis ein Relikt aus der Zeit der Amerikanisierung Japans nach dem Zweiten Weltkrieg, und der Ursprung dieses Problems liegt in der Verwestlichung Japans im 19. Jahrhundert, wo das typografische Chaos begann.
Im Jahr 1952 wurden die »offiziellen Mitteilungen« vom damaligen Kultusministerium zum Thema Rechtschreibung für amtliche Dokumente bekanntgegeben. Unter anderem soll horizontal geschrieben und dabei das »westliche« Komma verwendet werden (der Punkt soll japanisch [。] sein).

©2012 W3C
Seitdem sind 70 Jahre vergangen. Von den unzähligen Behörden in Japan praktizieren heute nur noch eine Handvoll Verwaltungsorgane diese seltsame Zeichensetzung (nach eigenen Recherchen sind es Justizministerium, Oberster Gerichtshof, Wettbewerbskommission, Kaiserliches Hofamt und ein Teil des Kultus- und Wissenschaftsministeriums). Der große Rest hat sich bewusst dagegen entschieden und verwendet das japanische Komma [、] auch bei horizontaler Schreibrichtung (japanische Webtexte sind in aller Regel horizontal gesetzt, deshalb ist die Entscheidung der einzelnen Behörde bezüglich dieser Frage auf der jeweiligen Website erkennbar).
Aber eben das Kultus- und Wissenschaftsministerium ist zuständig für JIS X-Normen (X = Informationsverarbeitung). Deshalb sind wahrscheinlich auch der Arbeitsgruppe dieses W3C-Projekts die Hände gebunden, auch wenn der eine oder andere Mitstreiter etwas gegen den Einsatz vom westlichen Komma und Punkt im japanischen Text hätte. Anders kann ich mir diese irreführende Form der Vorstellung nicht erklären. Irreführend, weil die japanischen Massenmedien nichts von der »Konvention« der Behörden halten und konsequent das japanische Komma verwenden. Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Internet, soziale Medien … im alltäglichen Leben der Normalbürger ist das »andere« Komma fehl am Platz.
Papier ist geduldig, Schulbücher sind es auch
Schulbücher haben Vorbildfunktion. Die Satzzeichen in den Schulbüchern müssen deshalb auch vorbildlich verwendet sein. Und wer kontrolliert die Schulbücher? – na, das Kultusministerium natürlich. Die horizontal gesetzten Schulbücher in Japan (Soziologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Musik, Englisch u.a.) sind deshalb übersät mit dem westlichen Komma, d.h., die Schüler haben ziemlich lange Zeit, um sich diese vom Staat »empfohlene« Schreibweise anzueignen. Aber das geschieht nicht, als hätten sie in der Schule nichts gelernt.

Ausschnitt aus einem japanischen Schulbuch ©2019 Suken Shuppan
Von wegen Vorbildfunktion: Man kann nicht leugnen, dass diese »Lehre« wegen der Dominanz der Massenmedien völlig ins Leere geht, und zwar schon immer. Aber das Thema kümmert leider nur die wenigsten, und solange sich das Ministerium an diesen uralten Gedanken hält, wird das Wirrwarr um die Orthographie kein Ende nehmen.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die für Schulbücher zuständige Abteilung des Ministeriums selbst auf ihrer Website, die über Schulbücher informiert, das japanische Komma verwendet:

Website des Kultus- und Wissenschaftsministeriums. Stand: 08.2019
Und auf den direkten Unterseiten ist der Text plötzlich mit dem anderen (für sie normalen) Komma gesetzt. Hier z.B. auf der Seite »Fragen und Antworten zu Schulbüchern«:

Website des Kultus- und Wissenschaftsministeriums. Stand: 08.2019
Abgesehen von den Ungereimtheiten dieser Abteilung verwendet das Kultus- und Wissenschaftsministerium auf seiner Website überwiegend das japanische Komma. Nur das Amt für kulturelle Angelegenheiten, das als Sonderamt zum Kultus- und Wissenschaftsministerium gehört und in das die »Abteilung für die japanische Sprache« (!) eingegliedert ist, stellt sich ganz taub und verwendet überall das westliche Komma. Kann das jemand verstehen?

Website des Amts für kulturelle Angelegenheiten. Stand: 08.2019
Also liebe Europäer und DTP-Interessierte, bitte machen Sie das bloß nicht nach und nehmen Sie das japanische Komma und den japanischen Punkt auch für den horizontalen Satz! Dann ist alles gut.

©2012 W3C
Übrigens: Einige wissenschaftliche Gesellschaften und Institute in der japanischen EDV-Branche haben eigene Hausregeln für die Schreibweise. Sie schreiben ihren Mitgliedern vor, in ihren Beiträgen für wissenschaftliche Fachzeitschriften westliche Kommas und Punkte zu verwenden. Außerdem soll es in technischen Fachbereichen (Universitäten, Forschungsinstitute u.ä.) relativ viele Menschen geben, die weder das japanische Komma noch den japanischen Punkt verwenden, da sie sich stets mit mathematischen Formeln beschäftigen und das ständige Umstellen der Tastatur nur lästig finden. Sie sind aber eindeutig Ausnahmegruppen, die dennoch nicht außer Acht gelassen werden sollten.